Noch vor wenigen Tagen war die Stimmung im Holstein-Stadion frostiger als das Novemberwetter. Nach der 0:1-Niederlage gegen Hertha BSC machten Teile der Fans ihrem Frust ungewohnt deutlich Luft: Stinkefinger, wütende Rufe, völliges Unverständnis für die jüngste Negativserie. Die Geduld war aufgebraucht – zum ersten Mal seit langer Zeit schien die Stimmung in Kiel zu kippen.
Doch ausgerechnet im DFB-Pokal beim Hamburger SV, vor mehr als 57.000 Zuschauern im Volksparkstadion, gelang Holstein Kiel ein emotionaler Befreiungsschlag. Der Last-Minute-Ausgleich in der 118. Minute, das dramatische Elfmeterschießen, der Sieg – und plötzlich war alles wieder möglich. Nach Spielende riefen die Fans über Megafon: „Wir sind stolz auf euch – ihr habt es richtig geil gemacht!“ Ein Schulterschluss, wie man ihn lange nicht mehr erlebt hatte.
Harres wird zum „Freistoßgott“ – und bricht seinen eigenen Fluch
Der Mann des Abends war Phil Harres. Erst schweißte er einen direkten Freistoß in der Nachspielzeit der Verlängerung in den Winkel, dann verwandelte er als fünfter Schütze den entscheidenden Elfmeter. Was folgte: pure Ekstase. Die Kieler Fans feierten ihn mit Sprechchören – „Freistoßgott!“ war von den Rängen zu vernehmen.
Harres erklärte später sichtlich gelöst, wie viel für ihn persönlich an diesem Tag auf dem Spiel stand. „Ich wusste, dass ich das kann. Wir hatten nichts zu verlieren – also musste ich ihn einfach nehmen“, sagte er zum Freistoß. Besonders emotional wurde es, als er über den Elfmeter sprach: „Vor drei Jahren habe ich einen in die Wolken gehauen. Ich wollte diesen Fluch endlich brechen. Heute war der perfekte Tag.“
Dass der fünfte Elfmeter an ihn ging, sei übrigens keine Trainerentscheidung gewesen: „Der Co-Trainer Alex Hahn hat mich gefragt, ob ich schießen will. Da habe ich gesagt: Klar. Und dann war ich der Fünfte.“
Pokal-Keeper Weiner: „Wir haben in den letzten Wochen zusammen die Scheiße gefressen“
Auch Torhüter Timon Weiner, der erneut im Pokal zwischen den Pfosten stand, war nach dem Abpfiff überwältigt. „Absolut geile Leistung heute – wie wir über 120 Minuten gefightet haben“, sagte er. Der Pokal ist sein Wettbewerb, und er genießt jede Minute: „Natürlich will ich jede Woche spielen. Aber ich bin froh, dass der Trainer mir das Vertrauen schenkt.“
Besonders wichtig war ihm aber ein anderer Satz: „Wir haben in den letzten Wochen echt zusammen die Scheiße durchgefressen. Heute haben wir uns endlich mal belohnt.“
Rapp: „Ein Schritt, der längst fällig war“ – und eine klare Botschaft an Braunschweig
Trainer Marcel Rapp wirkte nach dem Pokalsieg erleichtert, aber keineswegs abgehoben. „Wir haben viele Spiele gehabt, in denen wir knapp dran waren oder sogar besser waren“, sagte er. „Heute haben wir uns endlich mal belohnt.“ An einen Lucky Punch wollte er nicht glauben: „Wenn man so viele Chancen hat wie wir heute, dann ist es verdient.“ Der Trainer betonte vor allem, wie wichtig es sei, die Energie aus dem Volkspark mitzunehmen: „Diese Euphorie mit den Fans – das müssen wir jetzt in die Liga transportieren.“
Zu Phil Harres’ Doppelrolle als Freistoßheld und Elfmeterschütze sagte Rapp: „Phil hat sich das erarbeitet. Er bleibt dran, er ist fleißig, er ist total bemüht. Heute hat es sich ausgezahlt.“
Auch zum Ausfall von Alexander Bernhardsson äußerte er sich vorsichtig optimistisch: „Der Fuß ist ruhiggestellt. Es kann schnell gehen, vielleicht dauert es auch etwas länger. Eine klare Diagnose gibt es noch nicht.“
Ausblick: Der Pokalrausch ist vorbei – jetzt wartet ein Abstiegskrimi
Am Sonntag folgt der nächste Prüfstein: das Auswärtsspiel bei Eintracht Braunschweig. Ein Duell, das für beide Teams enorme Bedeutung hat – es geht um entscheidende Punkte im direkten Kampf gegen den Abstieg.
Die Fans erwarten nach dem Pokalabend nicht weniger als die nächste Reaktion. Der Schulterschluss ist da – nun muss die Mannschaft den Schwung nutzen. Ein Sieg in Braunschweig würde nicht nur Punkte bringen, sondern auch bestätigen, dass Kiel im Pokal nicht nur die Nerven behalten, sondern endlich auch wieder den Liga-Rhythmus gefunden hat.
Artikel und Bilder: Ole Jacobsen.


